Der Überlieferung zufolge habe Rathgeber ohne Erlaubnis seines Abtes das Kloster eigenmächtig verlassen, da er aufgrund seines aufgeregten Geistes mit der klösterlichen Ordnung nicht zurechtgekommen sei.
Sein musikalisches Talent war zu sehr aufgeregt, als daß es sich mit der stillen klösterlichen Ordnung befriedigen konnte. Doch gelang es ihm mehr als 20 Jahre durch musikalische Zerstreuungen sich ruhig zu verhalten; erst als sein Mißvergnügen die höchste Stufe erreicht hatte, wagte er an Abt Benedikt Lurz die Bitte um Erlaubniß, eine Geniereise zu machen, welche ihm verweigert wurde. Er begab sich also eigenmächtig d. 22. Oct. 1729 Morgens im gewöhnlichen Anzuge aus dem Kloster, ohne sich um das Fragen des Abts und anderer Standsgenossen um den Zweck seines Ausgangs zu bekümmern. (Jäck)
Die vorgeblich unerlaubte Reise Rathgebers wird aufgrund dieser Erzählung meist mit einer regelrechten Flucht aus der Enge des Klosters gedeutet. In den meisten Publikationen hat sich hierfür der Begriff „Geniereise“ eingebürgert. Der Begriff „Genie“ gehört allerdings erst einer geistesgeschichtlichen Bewegung der zweiten Hälfte des 18. Jh. an.
Eine echte Bildungsreise hat Rathgeber auch nicht unternommen. Sicherlich mag er sich im Kloster isoliert von den großen Entwicklungsströmen der Musik vorgekommen sein. Im Rahmen einer Weiterbildung hätte er aber die Zentren der Musiktheorie und -praxis in Italien aufsuchen müssen. Rathgeber begab sich aber in erster Linie an Zentren pfarrlichen und klösterlichen Lebens, wo er auf die Bedürfnisse der lokalen Aufführungspraxis eingehen konnte. Es ist eher unwahrscheinlich, daß er dort kompositorische Fähigkeiten weiterentwickeln konnte. Während seiner Fahrt studierte er ausgiebig die örtlichen liturgischen Gegebenheiten. Mit diesen Einsichten konnte er geschickt den Musikmarkt seiner Zeit bedienen und Gebrauchsliteratur für alle Zwecke anbieten. Interessanterweise hat sich der Kompositionsstil Rathgebers trotz der fast neunjährigen Reise kaum geändert.
Berechtigte Zweifel scheinen auch an der heroisch geschilderten Klosterflucht angebracht. Sicherlich war der Benediktiner Rathgeber an die stabilitas loci seines Ordens gebunden. Sein Abt konnte ihm sicher nicht die Erlaubnis zu einer groß angelegten Werbekampagne geben, da dies gegen die Statuten der Ordensregel verstoßen hätte. Er konnte aber seinen Mitbruder in Frieden ziehen lassen, wenn er dies schon nicht offiziell erlauben konnte. Rathgeber bekennt sich außerhalb der Klostermauern stets zu seiner Ordenszugehörigkeit und weist ausdrücklich darauf hin, daß die Veröffentlichung seiner Werke mit der Erlaubnis seines Abtes geschah. Überdies dürfte die Reiseroute Rathgebers seinem Abt angesichts der Verbindungen der einzelnen Klöster untereinander nicht unbekannt geblieben sein. Ähnliche Klosterflüchtlinge wie Benedikt Reindl aus Kloster Disentis wurden alsbald wieder in ihr Heimatkloster überführt.
Die Reise Rathgebers kann also adäquat weder als Geniereise noch als Bildungsurlaub, noch als Klosterflucht aufgefaßt werden. Die Gründe für ein Verlassen des Klosters müssen also andere sein. In der Beischrift zu Opus IV reagiert Rathgeber auf Kritik, die an seinem kompositorischen Schaffen geäußert wurde. Rathgeber mußte auf diese Kritik antworten. Er tat dies durch eine großangelegte Werbetour. Alle bislang gefundenen Quellen stimmen darin überein, daß Rathgeber seine Werke der geneigten Öffentlichkeit vortrug und für seine Kompositionsweise warb.
Die folgende Karte zeigt die aus den Widmungsvorreden und anderen archivalischen Belegen rekonstruierte Reiseroute:
{mosmap kml='http://www.rathgeber-gesellschaft.de/images/test.kml|kmlsbwidth='2'|mapType='Terrain'|showMaptype='1'|}